Zum Hintergrund: Die Sechsunddreißig Strategeme sind eine Sammlung von Strategien, Listen, Geschichten und Sinnbildern, die dem im fünften Jahrhundert lebenden chinesischen General Tan Daoji zugeschrieben werden. Während seine Kollektion von Weisheiten und Tricks hierzulande noch recht unbekannt ist, sind die Schriften im Reich der Mitte ein echtes Allgemeingut und werden – trotz ihrer militärischen Entstehungsgeschichte – hauptsächlich im Alltag angewendet.
Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihr Auto in Ihre Stammwerkstatt zur Inspektion und setzen sich das Ziel, im Zuge dessen auch einen kostenlosen Reifenwechsel zu bekommen. Statt direkt nach diesem zusätzlichen Service zu fragen, bitten Sie als langjähriger Kunde um einen Rabatt für die Inspektion. Dabei wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass die Werkstatt das primäre Interesse verfolgt, den vollen Preis für die Inspektion zu erhalten, und deshalb keinen Rabatt gewähren wird. Sie machen nun nochmals deutlich, dass Sie nicht den vollen Preis zahlen möchten, und erzeugen mit dieser offenen und bewusst irreführenden Forderung bei der Werkstatt eine falsche Vorstellung Ihres scheinbar gegensätzlichen Interesses.
Im nächsten Schritt können Sie der Werkstatt anbieten, auf Ihr scheinbar primäres Interesse des Rabatts zu verzichten, und stattdessen einen kostenlosen Reifenservice vorschlagen. Aufgrund des Gerechtigkeitssinns Ihres Verhandlungspartners wird dieser nun eher zu einer Ausgleichsleistung bereit sein. Die Werkstatt sieht so ihr primäres Interesse erfüllt – sie erhält den vollen Preis für die Inspektion – und hat die Verhandlung aus ihrer Sicht gewonnen, da Sie als Gegenüber scheinbar Ihr primäres Interesse aufgegeben haben. Sie haben mit Ihrem Vorgehen nun durch das Angeben eines irreführenden Interesses bei der Werkstatt im „Osten gelärmt“, sich dort aber wieder zurückgezogen, und konnten dafür „im Westen“ den kostenlosen Reifenservice erhalten.
Doch bei diesem Vorgehen ist Vorsicht geboten (Gratch et al. 2016). Die bewusste Verschleierung der Interessen in Verhandlungen sollte Ihr Repertoire an Verhandlungstechniken nur am Rande ergänzen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Ihre Verschleierung etwa durch viele Nachfragen Ihres Gegenübers auffällt und Sie als unglaubwürdig erscheinen.
Zum Autor: Wie bereits in den vergangenen Jahren erhält die nächste Generation von Verhandlungsführern und Mediatoren die Möglichkeit, kreative Ideen, Entdeckungen und Hinweise in Kürze vorzustellen. In dieser Runde der Nachwuchsseite präsentieren Teilnehmer des Master-Kurses „Verhandlung und Konfliktmanagement“ der Universität Münster ihre Interpretation der „Sechsunddreißig Strategeme“ in Bezug auf Verhandlung und Mediation. Hier ein Beitrag des Studenten Oliver Eicke.