Heimat in Dir – die Bedeutung von Wahrheit für die Partnerbeziehung

Den Artikel gibt es auch hier zum Nachhören.

Dieser Beitrag von unserem Autor Michael Cöllen handelt von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Treue, Solidarität, Verzeihen und um Verzeihung bitten, Umgang mit menschlichen Fehlern und Scham, Echtheit und Tiefe der Gefühle, Umgang mit Treue und dem Stellenwert von Wahrheit.

Schon die Auswahl dieser Stichworte macht deutlich, dass es hier vorrangig nicht um ein moralisches, sondern um ein psychologisches Verstehen von Wahrheit geht. Wahrheit in der Paarbeziehung wird zum geschützten Raum für menschliches Wachstum und Reifen das Erfahren und Erleben von Heimat. Auf diese Weise wächst schon bei Kindern das für unser ganzes Leben entscheidende Urvertrauen. Solch eine Heimat im Du, im anderen zu finden, ist das Fundament für eine überdauernde Liebe – durch Krisen hindurch.

Nicht die Wahrheit der Fakten ist hier gemeint, sondern menschliche Wahrhaftigkeit. Eine absolute und unbedingte Wahrheit zwischen Liebespartnern, überhaupt zwischen Menschen gibt es nicht. Die nackte Wahrheit kann auch zerstörerisch wirken.

Was ist Wahrheit – was ist Wahrhaftigkeit?

Einige Beispiele sollen das Problem mit der Wahrheit zwischen Partnern verdeutlichen:

Jahrelanges Grollen und Nicht-Verzeihen, jahrelanges heimliches Trinken, aber auch den eigenen Stress zu leugnen und dafür den anderen zum Sündenbock zu machen, eigene innere Unzufriedenheit infolge mangelnder Selbstwirksamkeit dem Partner anzulasten, den Partner zu demütigen, statt sich selbst hilflos, ängstlich und bedürftig zu zeigen, letztlich statt Selbstkritik zu üben lieber den Partner kritisieren – hier verwischen regelmäßig die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Vom Speziellen ...

Noch konkreter sind diese Bespiele: Ein Gynäkologe hilft in der Klinik einer Patientin bei der Geburt, während seine eigene Frau zu Hause selbst ein Kind zur Welt bringt – unter großer Angst und allein mit Begleitung der Hebamme.

Eine Frau hat 27 Jahre heimlich den Freund der Familie als Geliebten. Ein Mann geht in der Hochzeitsnacht fremd, ein anderer während der Schwangerschaft seiner Frau.

Eine Frau übt sich jahrelang im Zurückhalten ihrer Kritik, aus Angst vor Streit und Disharmonie. So verschweigt sie ihm – auch aus Scham – vom Anfang der Beziehung an ihre eigenen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse im Gegensatz zu seinem männlichen Fordern. Das Ergebnis ist eine langjährige Stagnation des sexuellen Dialoges und damit auch des partnerschaftlichen Wachsens.

… zum Allgemeinen

Vonnöten ist hier deshalb eine Begriffsklärung: Als Menschensind wir zu absoluter Wahrheit nicht fähig. Unsere mit dem Menschsein verbundene subjektive Wahrnehmung verhindert das. So kann auch schon das Verschweigen von Wahrheit eine Lüge sein. Eine solch unausgesprochene Wahrheit führt den Partner oft unbewusst in eine seelische Desorientierung, die geradezu traumatisierend wirken kann.

Wahrhaftigkeit dagegen beinhaltet, sich als Persönlichkeit ganz einzubringen – sich mit all den eigenen Anteilen zu zeigen und dem Partner gegenüber zu bekennen. Sehr schwierig wird es mit dem Verstehen von Wahrheit, wenn es darum geht, reale Schwächen und Fehler des anderen eben gerade nicht anzuprangern, sondern liebevoll darüber hinwegzusehen. Zu lernen, ihn nicht damit zu demütigen, sondern mit Wohlwollen und Empathie aufzubauen. Berechtigte Kritik gehört zwar zur notwendigen Wahrheit in der Liebe, kann aber auch zur Waffe gegen den Partner werden, um sich selbst zu schonen.

Fragen statt Einschränkungen

Um ein ausgeglichenes Leben in voller Wahrheit mit dem Partner führen zu können, ist es besser, verständnisvolle Fragen zu stellen, anstatt moralische Gebote und Verbote vorzugeben. Fragen machen neugierig, wecken die Motivation. Sie provozieren nicht Abwehr und Widerstand, sondern befördern die Intention, sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Fragen führen besser in die Tiefe und bleiben nicht oberflächlich dem Austausch von Gegenargumenten verhaftet. So kann ein Paar folgende Fragen stellen:

Fragen an sich selbst: Zeige ich Dir tatsächlich mein ganzes Inneres? Erzähle ich Dir von meinen inneren Gedanken, Fantasien, Wünschen und Hoffnungen? Zeige ich mich in meiner Scham? Halte ich Gefühle zurück, weil ich mich ihrer schäme? Was tue ich ganz real, um Dich im Innersten glücklich zu machen? Wie zeige ich Dir täglich und tätlich meine Liebe?

Fragen an den Partner: Gehst Du verantwortungsvoll mit mir um? Meinst Du es ehrlich mit mir? Kann ich mich auf Dich verlassen? Stehst Du mir loyal zur Seite? Handelst Du solidarisch mit mir? Kann ich Dir ganz und gar vertrauen? Stehst Du mir auch dann noch bei, wenn ich Fehler mache und Schwächen zeige? Kann ich mich wie ein Kind ganz vertrauensvoll in Deine Arme fallen lassen?

Umgang mit Fehlern und Scham

Der Sinn dieser Fragen wird schnell verständlich, weil sie alle nicht auf die „nackte Wahrheit“ zurückgreifen, sondern auf die unter der Oberfläche der faktischen Wahrheit liegenden Beweggründe und Motive abzielen. Seine eigenen Fehler und Schwächen erkennen, benennen und bekennen – das ist im Grunde die Wahrheit, die der andere Partner von mir braucht, um sich orientieren zu können. Dazu gehört allerdings auch meine Gefühlstiefe – ebenso wie auch meine Stärken und Potenziale. Auch dazu muss ich mich bekennen, damit der Partner sich in mir und an mir orientieren kann. Um mit den Fehlern des Partners konstruktiv und förderlich umzugehen, bedarf es einer echten Streitkultur anstelle von Wortgefechten, Wutausbrüchen oder trotzigem und aggressivem Schweigen.

Zu einer echten Streitkultur gehört es allerdings, die Fakten anzuerkennen und das Krisenpotenzial zwischen den Partnern aufzudecken. Immer wieder braucht es eine solche „Stunde der Wahrheit“, damit die negativen Muster von „Dir“ und von „mir“ überhaupt erkannt, benannt und eingestanden und damit erst bearbeitet werden können. Das wiederum gelingt nur, wenn dieses Aufdecken der Wahrheit nicht zu gegenseitiger Beschämung und Demütigung führt. Im Gegenteil: Das Aufdecken des Übels kann durch die Solidarität der Liebenden zu einer wahren Erlösung und zur Befreiung von Angst und innerer Scham führen. In der Gewissheit, dass ich mich vor Dir nicht zu schämen brauche, kann ich endlich beginnen, meinen seelischen Schutt beiseitezuräumen. Und Du hilfst mir sogar dabei, solche Altlasten auf dem Weg zum gemeinsamen Glück abzutragen.

Respekt als Grundlage für gemeinsames Wachstum

So lautet die einfachste Regel für eine echte Streitkultur, den Partner auch in einer noch so heftigen Auseinandersetzung niemals zu beschämen, denn das würde seine ihm selbst oft verborgenen Verletzung noch vergrößern. Und es würde ihn immer tiefer in die Gegenwehr hineinführen, bis zur Eskalationsspirale. Wir alle und besonders die Liebenden können allein durch die wahrhaftige Zuwendung des anderen aus unseren Fehlern lernen und an ihnen wachsen. Fehler sind menschlich. Es geht nicht darum, sie abzuschaffen, sondern in der Auseinandersetzung damit zu reifen.

Zur psychologischen Wahrheit bei Partnerschaften gehört, dass wir uns nicht nur der Attraktivität wegen gegenseitig wählen, sondern unbewusst gerade auch aufgrund der Fehler, die uns zu diesem inneren Entwicklungsprozess des Erwachsenwerdens unvermeidlich herausfordern. Und dieser Prozess dauert letztlich an, bis wir sterben.

Entschließen wir uns letzten Endes als Liebende für eine überdauernde oder gar lebenslange Paarbeziehung, dann ist es aber auch unvermeidlich, dass wir mit diesen uns eigenen Schwächen immer wieder Gefahr laufen, uns auch gegenseitig zu schwächen – und damit zu verletzen und zu kränken, manchmal auch krank zu machen. Dem Partner wieder und immer wieder neu zu verzeihen und von ihm Verzeihung zu erbitten, ist dann die größte Wahrhaftigkeit.

Die (schwindende) gesellschaftliche Bedeutung der romantischen Liebe

Die Wahrheit zwischen vielen Partnern leidet enorm darunter, dass in unserer Gesellschaft tiefe Gefühle wenig gewürdigt werden. Dabei stellen sie den Reichtum eines jeden Menschen im Leben an sich dar, und insbesondere der Liebenden. Denn es sind erst die Gefühle, die das Zuteilwerden im Leben und zwischen den Partnern zum Genuss werden lassen. Ohne Gefühle wären wir Maschinen, vielleicht funktionierend, aber nicht wirklich lebendig. Heftige und tiefe, innige und zarte Gefühle werden heutzutage eher verlacht. Innigkeit ist als Wort kaum noch im Umlauf und wird dementsprechend selten in die Tat umgesetzt.

Wer noch an das Wunder der Liebe glaubt, wird belächelt. Die eigene Liebessehnsucht – mit Ausnahme der sexuellen Bedürfnisse – in Worte zu fassen, gelingt nur wenigen. Selbst einen Liebesbrief zu schreiben, wird heute nicht oder kaum noch praktiziert. Psychologische Forschung und Wissenschaft beschäftigen sich zwar mit dem Phänomen Liebe, bezeichnen aber die romantische Liebe als Faktor der Instabilität von Beziehungen.

Umgang mit Gefühlen und Scham

Eine öffentliche Unterdrückung der Gefühle führt aber auch zur Unterdrückung der Gefühle im privaten Liebesleben. Es schwindet regelrecht das Vokabular dafür. Und mit der Sprache der Liebe und der Herzen geht auch fast unmerklich das Gefühl verloren, weil es im Alltag wenig Einübung erfährt. Stattdessen bemächtigen sich der Verkauf und die Werbung der Gefühle als Lockmittel, als Anreiz zum suchtartigen Konsum, um die so entstandene innere Leere damit zu füllen.

Nichts, aber auch gar nichts (auf dieser Welt) ist wichtiger zwischen den Liebenden als die Stimmigkeit bzw. die Echtheit ihrer Gefühle füreinander. Der Austausch der Gefühle über ihre Körper, die Sprache und die Seelen im zeitlosen Ineinanderfließen der beiden – gerade das macht das Wesen der Liebe aus. Die Wahrheit der Liebe liegt in ihren starken Gefühlen. Das Bewältigen des Alltags, das Überwinden von Stress und Routine müssen wir alle als Zoll an das reale Leben aufbringen. Erst die Liebesgefühle füreinander, miteinander, manchmal auch gegeneinander, und immer wieder ineinander und durcheinander machen es so unvergleichlich kostbar. Sie machen die eigentliche Intimität des Paares aus.

Und besonders hier setzt sehr oft Scham ein – wegen der hohen Verletzlichkeit dieser Gefühlstiefen. Wir scheuen uns geradezu, sie öffentlich auszusprechen, oft genug aber auch dem Partner gegenüber.

Wie aber kann er dann wissen, wie wahrhaftig ich bin im Umgang mit ihm?

Die Scham, über ihre tiefsten Gefühle in aller Wahrheit zu sprechen, bringt viele Paare zum Schweigen. Kurze Mails und noch kürzere SMS ersetzen dann den Dialog der Liebenden und das innige Zwiegespräch.

Umgang mit Treue als besondere Herausforderung

Treue bedeutet nicht einfach nicht fremdgehen – oder andersherum ausgedrückt: Untreue beginnt lange vor dem Fremdgehen. Das Treueverständnis einer festen und dritte Partner ausschließenden Beziehung sucht intime Geborgenheit, gegenseitigen Entwicklungsanstoß und wachsende Sinngemeinschaft. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal einer solchen Verbindung gegenüber Außenbeziehungen liegt im Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl, ein weiteres im Verantwortungsgefühl und ein drittes im Entscheidungsdruck für den Einen und gegen den Anderen.

Die Frage der Treue erstreckt sich nicht nur auf sexuelle, sondern auch auf soziale, emotionale und seelische Bereiche. Treue zu einem Partner nur unter dem Aspekt von Sexualität reicht nicht aus. Ein anderer wichtiger Punkt aber ist die Treue zu sich selbst. Diese nämlich ist als Fundament die Voraussetzung für eine konsistente Treueentscheidung bezogen auf den Partner. Deshalb kommt hier dem Verständnis von Treue im „Lernmodell Liebe“ eine ganz besondere und erweiterte Bedeutung zu.

Das psychologische Verständnis von Treue in Beziehungen baut auf der Vorstellung auf, dass die Liebe zwischen zwei Menschen einen geschützten Lebensraum braucht. Liebe ist jetzt der Ort für fortdauernde menschliche Entwicklung und Reifung bis zum Tod. Der Wunsch oder der Anspruch auf Treue meint damit keine moralische Haltung, sondern ein den Menschen innewohnendes psychologisches Bedürfnis – immer mit dem Gedanken verbunden, dass dieses nicht um jeden Preis gilt. Die Treue zu sich selbst bedarf ebenso der Treue zum Partner, um den Weg der Menschwerdung und menschlicher Entfaltung gehen zu können.

Wahre Treue begründet sich nicht im Bett, sondern in der Seele. Echte Treue zeigt sich erst in der Komplexität von tiefer Verantwortung, von pflegender Sorge, von ausdauernder Verlässlichkeit auch bei Schwäche, Altwerden und Krankheit in würdevoller Zuwendung. Wahrhaftige Treue schützt Körper, Geist und Seele des Partners.

Der Stellenwert von Wahrheit

Es sieht danach aus, dass Unwahrheit als Handelswert in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einen immer höheren Kursgewinn erzielt. Fake News werden von den Mächtigen dieser Welt zur Desorientierung und Destabilisierung eingesetzt.

Es scheint, dass die innere Wahrheit, langsam aber zunehmend verloren geht. Die Werte, die uns seit der griechischen Klassik von Platon (427–347 v. Chr. in Athen) zumindest im Westen Jahrhunderte als Richtschnur galten, werden im digitalen Zeitalter abgelöst. Das Sehnen und Streben nach dem Guten, dem Wahren und dem Schönen wird ersetzt durch Gewinnmaximierung und Selbstoptimierung.

Wahrhaftige Eltern-Kind-Beziehungen als Grundlage für Intimität

Dabei wird der psychologische bzw. menschliche Gewinn von Wahrheit schon überdeutlich spürbar im uns alle berührenden Kinderglauben. Schon die forschenden Augen eines Babys prüfen die sichere Geborgenheit im Glanz der elterlichen Augen. Kinder sind auf unsere Wahrheit und Wahrhaftigkeit angewiesen. In erster Linie gilt das für die Stimmigkeit der Gefühle. Gleichermaßen brauchen wir als Erwachsene die Wahrheit im Gegenüber – dadurch wird er mir zum Spiegel für das eigene Selbst. Die intime Liebe zwischen Eltern und Kind findet ihre Fortsetzung in der intimen Liebe zwischen den Partnern, zwischen den Liebenden.

So entsteht Heimat in Dir, Heimat im Du, seelische Geborgenheit. Deine Wahrheit ist auch meine Wahrheit. Vor Dir brauche ich mich nicht zu schämen – trotz aller meiner Schwächen und dunklen Seiten. Mit Dir kann ich meine wahren Werte teilen – und dadurch selbst wertvoll werden.

Die Wahrheit zu sprechen bedeutet daher, dem Partner Achtung zu erweisen und mit Würde im Leben zu sein. Daraus können wir schlussfolgern: Je wahrhaftiger ein Mensch, umso erwachsener ist er – und umso „liebesfähiger“.

Die Wahrheit der Liebe lautet dann: Liebe ist der Sinn, Dialog der Weg, Würde das Prinzip.

 

Über den Autor: Michael Cöllen

Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut für Paar- und Sexualtherapie; entwickelte eine Dyadische Anthropologie und Psychologie des Paares sowie das paartherapeutische Verfahren der Paarsynthese. Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft für Integrative Paartherapie und Paarsynthese“ (GIPP e. V.). Autor u. a. von: Das Verzeihen in der Liebe und Paradies im Alltag – Paare gestalten das Glück.


Dieser Artikel ist in der Ausgabe von Die Mediation Quartal III/2019 erschienen. Dort finden Sie noch weitere interessante Beiträge zum Schwerpunktthema „Zwischen Lüge und Wahrheit“. Den Artikel gibt es auch hier zum Nachhören.

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