von Dr. Stefan Grüll
Ein spektakuläres Kunstprojekt polarisiert Berlin. Die Macher setzen auf mediative Kommunikation. Mit Erfolg.
Die Berliner bringt so schnell nichts (mehr) aus der Ruhe. Wir haben uns daran gewöhnt, dass in der Stadt eigentlich alles geht (außer Flughafen). Toleranz in Überdosis ist die DNA der Hauptstadt. New York kennt keinen Schlaf; Berlin keine Grenze. Es sei denn, es geht um DIE Grenze. Die, die sich von 1961 bis 1989 als mörderisch perfide perfektioniertes Betonband durch die Stadt zog. Die Mauer ist (fast komplett) weg, der Phantomschmerz ist gleichwohl noch immer heftig. Entsprechend daher auch der Reflex lokaler Medien auf eine Meldung mit Sprengkraft weit über die heile kaputte Welt der Spreemetropole hinaus: Ein Russe will die Mauer wieder aufbauen. Unglaublich. Aber wahr! (www.dw.com/de/berliner-mauer-als-kunstprojekt/a-45260915) Ein Kulturprojekt gigantomanischen Ausmaßes. Geschichtsvergessener Klamauk? Ich meine nicht, vielmehr ein Turbo für die gesellschaftlich überfällige Auseinandersetzung mit einem gefährlich mäandernden Freiheitsbegriff. Ist denn alleine die Abwesenheit von Unfreiheit tatsächlich schon die Freiheit, die wir meinen (zu haben)? Wie sehr hat denn das digitale Korsett, in das wir uns mit jeder Payback-Karte und jedem App-Download mehr und mehr zwängen; ganz FREIwillig, die analoge Freiheit bereits verdrängt? Ab wann eigentlich werden immer neue Sicherheitsgesetze, die uns vor realer Bedrohung der Freiheit schützen sollen, selbst zur realen Bedrohung unserer Freiheit? Die temporäre Mauer als Teil eines einzigartigen Kunstprojektes, das niemanden unberührt lassen kann, wird provokant sichtbare Mahnung sein: Freiheit ist fragil und verlangt Achtsamkeit. Von jedem. Jeden Tag.
Natürlich: In Berlin, im Herzen der Stadt zwischen dem Prachtboulevard Unter den Linden und dem Auswärtigen Amt, begrenzt durch die Staatsoper auf der einen Seite und dem Schinkelplatz vis á vis des neuen alten Stadtschlosses, die Mauer aus Beton und im DDR-Look, mit Zugangskontrollen und Visa. Ein starkes Stück. Ein starkes Bild! Ob Kunst das darf? Ob die Pietät im Angesicht der Toten an der einst real existierenden Mauer das erlaubt? Ob die Stadt das erträgt? Fragen, die richtig und wichtig sind. Um diese – und viele andere – mit der gebotenen Ernsthaftigkeit beantworten zu können, wird es das Projekt geben müssen.
Ob DAU genehmigt werden wird, entscheidet sich in diesen Tagen. Veranstalter (Berliner Festspiele), Regisseur und Produktion haben bewusst vor dem Gang an die Öffentlichkeit den intensiven Dialog mit den Anwohnern des Areals gesucht. In Einzelgesprächen wurde informiert und Bedürfnisse eruiert. Bedenken wurden aufgenommen und Lösungen mit den Betroffenen erarbeitet. Vor wenigen Tagen fand dann eine Anwohnerveranstaltung statt. Erwartungsgemäß stark die Präsenz. Und eine nach den teils harschen Kommentaren in der lokalen Presse so nicht selbstverständliche, einhellig positive Resonanz. Obwohl keine Illusion besteht, dass die vier Wochen (12.10. bis 09.11.) hinter der Mauer durchaus auch signifikante Einschränkungen bedeuten werden, konnte ein reflektierter Dialog organisiert werden und eine konsensuale Meinungsbildung würde möglich. Die mediativen Elemente, die die Binnenkommunikation geprägt haben, haben damit nachhaltig Wirkung gezeigt. Dieser Erfolg hat Bestand; unabhängig davon, ob die Mauer am 9. November wieder eingerissen wird oder gar nicht erst errichtet werden darf.
Als selbst betroffener Anwohner hoffe ich sehr, dass die Stadt grünes Licht geben wird. Ich bin so frei und möchte es bleiben! Nicht ausgeschlossen, dass die Stadt verrückt genug ist, die Chance dieses verrückten Projektes zu verpassen. Das wäre in der Tat grenzenlos – grenzenlos dumm.
Dr. Stefan Grüll
Weitere Informationen über „die Mauer“ und DAU: