Der Umfragewahn vermüllt den Gang an die Urne.
Von Dr. Stefan Grüll, Berlin.
In Bayern ist die Schlacht geschlagen. In Hessen läuft der Countdown. Für EMNID, Infratest dimap, die Forschungsgruppe Wahlen, FORSA und alle anderen Institute, die die mal mehr und mal weniger treffsichere Vorhersage des Wählerverhaltens zu einem überaus lukrativen Ereignis mit gewinnmaximierendem Spannungsbogen eines mehrwöchigen Umfragemarathons aufgepimpt haben, ist der politische Herbst 2018 die konjunkturelle Verlängerung des Jahrhundertsommers.
Ob Projektion (sog. Sonntagsfrage) oder 18-Uhr-Prognose: Ihr Produkt ist die Illusion demoskopischer Unfehlbarkeit und voyeuristische Neugierde speist die Auftragsbücher der von Parteien und Medien inflationäre angeheuerten Dienstleister. Zu demokratierelevanten Risiken und wahl(mit)entscheidenden Nebenwirkungen aber sollten doch einmal Empiriker, Psychologen und Kommunikationswissenschaftler befragt werden. Eine messbare Wirkung wird unisono attestiert. Die Flucht in Anglizismen kaschiert im Übrigen bedenkliche Unwissenheit. Bandwagon etwa steht für den Wunsch der Wähler, bei den Siegern zu sein. Underdog bezeichnet die von Anteilnahme getragene Entscheidung für die in den Umfragen Abgeschlagenen.

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Wirkung ja, aber welche? Mobilisierung auf jeden Fall. So profitieren von dem Bandwagon-Effekt grundsätzlich über einen längeren Zeitraum stabil prognostizierte Gewinner. Der gute Lauf einer Partei im Vorfeld wird zum Selbstläufer am Wahltag. Auf den Underdog-Effekt dagegen können in der Regel die Parteien setzen, die um die Fünf-Prozent-Hürde kämpfen und dies insbesondere dann, wenn parlamentarisches Sein oder Nicht-Sein über mögliche Regieurngskonstallationen entscheiden kann. Die Amplitude der Beeinflussung aber bleibt bestenfalls eine Vermutung. Nicht Genaues weiß man nicht. Nicht bei den Instituten, nicht in der Wissenschaft und schon gar nicht in den Nachrichtenredaktionen, die dennoch bemerkenswert skurpelbefreit bis zur Öffnung der Wahllokale Zahlen wie Kamelle im rheinischen Karnevalsumzug unter das Volk werfen:
Natürlich müssen die Medien bis zuletzt über die Parteien, ihre Kandidaten, deren Positionen und – sofern vorhanden – Visionen berichten. Wenigstens die Seriösen aber sollten gerade deshalb aus dem Wettlauf um die allerletzte Umfrage aussteigen. Quote und Schlagzeile können die Inkaufnahme eines veritablen Manipulationspotenzials flüchtiger Momentaufnahmen volatiler Stimmungen nicht rechtfertigen.
Das in der Bonner Republik ungeschriebene „Gesetz“, keine Umfragen mehr in der letzten Woche vor einer Wahl zu veröffentlichen, hat den Umzug nach Berlin nicht lange überlebt. Mit der Bundestagswahl 2013 sind auch bei den Öffentlich-Rechtlichen die letzten Hemmungen im Kampf um die schnelle Aufmerksamkeit gefallen. Eine Selbstverpflichtung aller Medien – Digital. Analog. Print – zu neuer alter Zurückhaltung wäre im Interesse einer auf substantiierter Meinungsbildung fussenden Wahlentscheidung zu begrüßen.