Nach dem Tegel-Plebiszit: Mehr Demokratie wagen!

Ein Zwischenruf zum Stand um die Zukunft vom Flughafen Tegel und die Sinnhaftigkeit einer Mediation zur Wahrung der Demokratie

von Dr. Stefan Grüll

 

Willy Brandt. Regierender Bürgermeister im geteilten Berlin, bis heute Idol der Berliner. Bundeskanzler, der mit dem Mut, Politik neu zu denken, „Mehr Demokratie wagen“ versprach. Und: Namenspatron des Endlosbaustellenflughafens BER – nur eine Ironie des Schicksals oder nicht vielmehr Verpflichtung für die, die heute in und für Berlin Verantwortung tragen?

Wie viel zählt der Bürgerwille?

Im September 2017 wagten die Hauptstädter mehr Demokratie und entschieden sich in einem Volksbegehren mit 56,1 Prozent für eine Offenhaltung des Innenstadtflughafens Tegel – vorläufiger Höhepunkt einer emotionalen Debatte, bei der es nach dem Plebiszit längst um mehr geht als um die politisch heftig diskutierte und auch rechtlich umstrittene Frage: BER solo – sollte der Hauptstadtflughafen Schönefeld tatsächlich 2020 fertig werden – oder doch noch BER plus, also Schönefeld UND Tegel.

An dieser Stelle soll es nicht um die jeweiligen Argumente gehen, die die bis dato unversöhnlich streitenden Kontrahenten „austauschen“, gestützt auf Gutachten und Experten, vorgetragen jeweils mit dem Anspruch auf die einzige Wahrheit. Als könne es nur Schwarz oder Weiß geben, ist der Blick auf die Grautöne verloren gegangen. Intellektuell und rhetorisch gefangen in dem imaginären Käfig der für sakrosankt erklärten Position, fehlen Bereitschaft und vermutlich auch Courage, Spielräume vermittelnder, tatsächlich belastbarer Lösungen – also nicht im Sinne untauglicher Formelkompromisse – zu eruieren:

Tegel Flughafen - Flughafen Otto Lilienthal

Tegel Flughafen – Flughafen Otto Lilienthal

 

 

Neu denken – das Vermächtnis Willy Brandts!

Wo, wenn nicht in Berlin?

Wann, wenn nicht nach einem erfolgreichen Volksbegehren?

 

Der Souverän hat von dem seltenen demokratischen Recht Gebrauch gemacht, seine Meinung unmittelbar zu artikulieren. Es mag der politischen Mehrheit passen oder – wie in diesem Fall – auch nicht. Richtig ist, dass das Votum keine den Senat bindende Wirkung hat. Genügt es aber deshalb, sich unter Hinweis auf die qua Auftrag sicherlich nicht unbedingt überraschend den Bürgerwillen ablehnende Expertise eines ehemaligen Bundesrichters mit einem apodiktischen NEIN aus der Affäre ziehen zu wollen? Haben die Berlinerinnen und Berliner nicht den Anspruch darauf, dass sich ihre Politiker in einem transparenten Verfahren und dialektisch redlich auch mit den Optionen zwischen JA und NEIN, Schwarz und Weiß befassen? Gefordert ist die Phantasie für die Grautöne. Gefragt ist die Bereitschaft, Perspektiven zu wechseln, Verständnis für die andere Position aufzubringen, um zu verstehen und für Verständnis zu werben. Und dann genügt es eben auch nicht mehr, dass die parlamentarische Minderheit sich in Stellungnahmen über die von ihr diagnostizierte Ignoranz der Macht empört. Wenn die Regierenden aus ihrer Ecke kommen, können die Opponierenden nicht in ihrer verharren.

 

Mehr Demokratie – dank Mediation

 

Mit Schreiben vom 31. Januar 2018 haben sich

Sosan Azad, Geschäftsführende Gesellschafterin Streit Entknoten GmbH, Berlin,

Dr. Gernot Barth, Direktor der Akademie für Mediation, Soziales und Recht, Steinbeis Hochschule Berlin,

Dr. Stefan Grüll, Mediator (Wirtschaft) und Rechtsanwalt, Berlin/Köln, ehemaliger Abgeordneter,

in gemeinsamer Initiative an die Vorsitzenden aller Fraktionen im Abgeordnetenhaus Berlin gewandt; daraus der Auszug:

 

„… vor der Kulisse eines Tegel-Volksentscheids demnächst auch in Brandenburg … erlauben wir uns den Vorstoß, Sie für die Idee einer Mediation zu gewinnen, weil von deren positiver Wirkung überzeugt: Ein strukturiertes Verfahren; entritualisierend und ergebnisoffen gestaltet. Rede und Gegenrede. Ausreden und Zuhören. Die strikte Allparteilichkeit der Mediatoren ein nicht verhandelbares Asset. Abgestimmte Kommunikation, die Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit vermittelt, ohne neues Vertrauen untereinander gleich wieder zu gefährden. Mediation in diesem professionellen Sinne wäre nicht die Berliner Variante von Stuttgart 21, das bis heute fälschlicherweise als Mediation bezeichnet wird, obwohl es doch eine Schlichtung war. Versierte Mediatoren legen keinen eigenen Kompromissvorschlag vor. Wir organisieren lediglich den geschützten Raum, der zwischen den Parteien dynamische Kreativität auf der Basis eines garantiert respektvollen Austausches aller Argumente freisetzt.

Um nicht missverstanden zu werden: Politik braucht keine externe Nachhilfe in der Sache und wir sehen uns auch verlässlich nicht in einer derartigen Rolle. Sie, die demokratisch gewählten Mitglieder des Abgeordnetenhauses agieren in jedem Stadium einer Mediation eigenverantwortlich. Ein Versuch? Mehr als das – und dies gänzlich ungeachtet eines etwaigen Ergebnisses, denn das Verfahren bereits würde in der Bevölkerung als Ausdruck wahrgenommen werden, dass und wie sehr die Politik die im Zuge des Volksentscheids aktiv artikulierte Willensbekundung der Berlinerinnen und Berliner schätzt.“

 

Einstweilen fahren die Züge weiter ungebremst aufeinander zu. Welcher Schaden für die Demokratie im Falle der Kollision entsteht? Ob es stattdessen nicht doch noch eine allseits befriedende Lösung geben kann? Mediation ist kein Garant des guten Endes, aber das überaus hilfreiche Instrument auf dem Weg dorthin.

 

Dr. jur. Stefan Grüll

zertifizierter Mediator (Wirtschaft). Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Medien, strategische Kommunikation und Krisen-PR. Kanzlei Berlin/Köln. Diverse Veröffentlichungen. Politische und parlamentarische Erfahrung als ehem. Abgeordneter.

 

 

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