Das Verhalten von Führungskräften wird nicht unwesentlich von Außenreizen beeinflusst. Vor allem für hochsensible Führungskräfte sind diese physisch intensiv spürbar. Hieraus resultieren besondere empathische Fähigkeiten, die sich positiv auf die Mitarbeiter auswirken können. Daniel Panetta beschreibt den Zusammenhang der Forschungsfelder Hochsensibilität und Führung.
Sie haben richtig gelesen: hochsensible Führungskräfte. Das gibt es! Im Zuge einer Studie (Panetta, 2016) habe ich mich intensiv mit diesen Menschen und dem Phänomen Hochsensibilität beschäftigt.
Was ist Hochsensibilität?
Im Jahr 1997 untermauerte Elaine Aron wissenschaftlich ein Phänomen, das vielen bekannt ist, aber noch nicht grundlegend erforscht wurde: Hochsensibilität. Sie postulierte, dass etwa 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung über diese Eigenschaft verfügen (vermutlich ist die Zahl allerdings geringer, da Aron ihre Tests vor allem mit Psychologiestudentinnen durchführte). Wenn wir uns unser Wahrnehmungssystem wie ein Sieb vorstellen, welches bei „normalen“ Menschen ein Raster durchschnittlicher Größe hat, ist das Raster bei hochsensiblen Personen (HSP) viel durchlässiger. Es können also mehr Informationen pro Zeiteinheit durch die Sinne im Gehirn aufgenommen werden (IFHS 2014). Das führt zu einem intensiveren Erleben, das heißt, man nimmt mehr Informationen auf, auch auf einer Subebene. Gleichzeitig aber ist dieses System schneller überfordert und es droht ein Overload.
Hochsensibilität vs. Führung?
Fragt man nach Synonymen für den Begriff sensibel, so fallen mit großer Wahrscheinlichkeit dünnhäutig, weich, empfindsam, mimosenhaft und zart besaitet. Durch die Vorsilbe hoch- wird die Bedeutung verstärkt. Daher und aufgrund der Erfahrung, dass hochsensible Führungskräfte (HSFK) in ihrem Verhalten diese Synonyme nicht teilen, möchte ich dazu anregen, den Begriff zu überdenken und durch wahrnehmungsbegabt zu ersetzen. Allein durch die Konnotation des Begriffs käme ein Gespräch über die Thematik ansonsten einem „Outing“ gleich.
Merkmale hochsensibler Führungskräfte
HSFK gehen auffallend oft einer lehrenden oder beratenden Tätigkeit nach, die sie inhaltlich mit ihrem ausgeprägten Werte- und Moralverständnis vereinbaren können. Wird seitens der Mitarbeiter gegen dieses Wertesystem verstoßen, können sie unsensibel reagieren. Ungerechtigkeit ist ihre Achillesferse. Führung hat für HSFK eine begleitende Funktion, sie sehen sich beratend und mit Schwerpunkt in der Beziehungsarbeit. Auf ihre Mitarbeiter wirken sie motivierend und haben oft eine Vorbildfunktion, da sie sich in einer ständigen Selbstreflexion befinden: „Ist mein Verhalten adäquat?“
HSP weisen eine erhöhte Gehirnaktivität im cingulären und prämotorischen Cortex auf (Acevedo et al. 2014). Das sind die Bereiche der Spiegelneuronen, die zur verstärkten Fähigkeit der sozialen Perspektivenübernahme beitragen. Diese Anlage, das wahrscheinliche Verhalten anderer Personen vorauszusagen, können HSP nutzen.
Das Empfinden von HSFK ist extrem, da sie Situationen besonders intensiv und sogar körperlich wahrnehmen – positiv wie negativ. Damit geht ein gewisses Gespür für das Stimmungsklima einher. Sie zeigen deutliche physische Reaktionen auf Gefühle und Emotionen. Werden sie durch diese Reize überfordert (Overload), sind Tränen, Bauchkrämpfe, Zittern etc. nicht selten (Freeze = Einfrieren). Damit solche Reaktionen von anderen Mitmenschen möglichst nicht bewusst wahrgenommen werden, vermeiden die meisten HSFK diese Situationen, vertagen sie oder wählen ein Setting, das reizarmer ist (Flight = Flucht). Von ihnen ist also ein erhöhtes Maß an Selbstkontrolle gefordert. Andere HSFK und in vielen Fällen diejenigen, die nicht davon wissen, dass sie von dem Phänomen betroffen sind, „wählen“ in solchen Stresssituationen die Konfrontation (Fight = Kampf) – zum Selbstschutz.
Chancen
Eine Führungskraft mit Gespür für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen, für Stimmungen, Feinheiten und Details wird oft vermisst. Unsere Organisationen verfügen über zahlreiche ungenutzte immaterielle Vermögenswerte. Diese Ressourcenlandschaft gilt es zu erschließen und wachsen zu lassen, etwa in Form einer durchdachten Personalentwicklung und -platzierung. Um ihr Potenzial entfalten zu können, müssen sich Hochsensible ihre Herausforderung bewusst machen und wissen, wie sie diese Eigenschaft gezielt fördern können. Auch Organisationen sollten weiter für das Thema sensibilisiert werden. So lassen sich etwa Fehlzeiten, die durch das Vermeidungsverhalten von HSP entstehen, reduzieren.
Resümee
Für die meisten hochsensiblen Führungskräfte ist es ein einschneidendes Erlebnis, von dem Phänomen zu erfahren. Sie sind froh, damit nicht allein zu sein, und freuen sich, die Eigenschaft nutzen zu können. Einige der Leser werden sich während der Lektüre dieses Textes gedacht haben: „Mensch, das kommt mir bekannt vor“ oder „Da kenn ich jemanden“. Ich bitte Sie, sich selbst und auch Dritte nicht vorschnell zu pathologisieren. Probieren Sie vielmehr Tipps zum Umgang mit dem Phänomen aus. Funktionieren diese und verändert sich etwas zugunsten der zwischenmenschlichen Harmonie, wissen Sie, woran Sie sind. Sind Sie davon (in-)direkt betroffen, kontaktieren Sie die Personalabteilung und fragen Sie nach Entwicklungsmöglichkeiten. Je mehr Menschen diesen Schritt gehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass dieses bedeutende Potenzial zukünftig zielgerichtet genutzt wird.
Über den Autor Daniel Panetta
Wirtschaftspsychologe und Experte für Leadership und Change. Bis 2014 war er Fallschirmjägeroffizier. Als Inhaber der Consult&TrainingUnit ist er auf der Suche nach verborgenen Ressourcen in der Organisationsentwicklung, im Krisenmanagement und als Mediator.