München, 4. April 2018 – „Wenn konstruktiv gestritten wird, dann können aus vielen einzelnen Meinungen neue Wege und Ideen entstehen“, sagt Sosan Azad, Vorstandsvorsitzende des Fachverbandes Mediation e.V. Für die Mediatorin gehören Streit und Demokratie einfach zusammen. Im Interview spricht Azad darüber, warum die Deutschen das Streiten verlernt haben und was sie sich von Talkshowrunden wünschen würde. Beim Nemetschek Forum am 18. April 2018 wird Sosan Azad gemeinsam mit Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT, und Prof.Dr. Thorsten Faas, Politikwissenschaftler und Wahlforscher, in der Black Box im Gasteig zu Gast sein. Das Thema der Diskussionsrunde der Nemetschek Stiftung: „Einigkeit und Streit und Freiheit. Warum das Ringen um Positionen so wichtig ist für die Demokratie.“
Frau Azad, wir umgeben uns gerne mit Menschen, die unsere Meinung teilen. Warum haben wir das Streiten verlernt?
Eine Hypothese von mir ist, dass wir in den letzten 73 Jahren in Deutschland in Frieden gelebt haben. Politisch war alles in Ordnung, der Mittelstand war zufrieden und wir leben auch in einem Land, wo wir von großen Naturkatastrophen verschont sind. Natürlich ist in den letzten Jahren politisch etwas passiert, auch Anschläge gab es. Aber davon abgesehen gab es keinen Grund zum Streit. Streit muss geübt sein, dafür braucht es Themen und Inhalte. Streiten zu verlernen, muss nicht unbedingt etwas Negatives sein. Wir haben für Streit andere Alternativen gefunden. Wir lieben unsere Regeln und halten uns daran. Und wenn sich jemand nicht daran hält, dann gibt es immer noch Anwälte.
Wie beeinflusst Social Media unsere Diskussionskultur?
Für mich gibt es auf Social-Media-Kanälen wie Facebook keine Streitkultur sondern vor allem Meinungsmache. Ich stelle meine Meinung zur Verfügung, und sie wird schnell verbreitet. Die Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten keine Kultur des Einmischens haben – sowohl konstruktiv als auch destruktiv – machen diese Plattformen eigentlich zu einem guten Weg sich zu beteiligen. Allerdings habe ich gerade bei Facebook den Eindruck, dass die Kommentare oft unter die Gürtellinie gehen – ohne Konsequenzen für diejenigen, die das tun.
Denken Sie – nach dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl – ist jetzt in der großen Koalition Schluss mit der Konsensorientierung und dem Kuschelkurs?
Die Chance war nach der Bundestagswahl da, aber die Parteien haben sie nicht genutzt. Mit der großen Koalition sieht es so aus, als ob es friedlich weitergeht. Wobei die Auseinandersetzung ja nicht zwischen den Parteien gelaufen ist sondern eher innerhalb der Parteien. Da geht es vor allem um Machtpositionen. Vielleicht haben die Parteien daraus gelernt, und sie konzentrieren sich jetzt mehr auf den inhaltlichen Streit.
Welche Regeln oder Rituale der Streitschlichtung aus der Mediation könnte die mediale politische Debatte übernehmen, um faire Kompromisse zu erzielen?
Ich erwarte von den Medien gar nicht, dass sie Mediationskompetenzen einsetzen, die sie wahrscheinlich sogar haben. Aber vor allem im Fernsehen fehlen bei den inhaltlichen Debatten und gesellschaftspolitischen Themen oft Experten. Wir brauchen Menschen auf der Bühne, die erklären und informieren, die mit ihrer Praxis- und Wissenserfahrung dazu beitragen, dass auch Argumente ausgetauscht werden und keine Politiker, die sich die Köpfe einhauen. Die Menschen sollen sich eine Meinung bilden können. Das wäre der Anfang. Aber das wäre dann wahrscheinlich auch langweilig für die Zuschauer.
Denken Sie, ein Generationenwechsel in der Spitzenpolitik würde zu einer konstruktiveren Diskussionskultur führen?
Ich bin tatsächlich besorgt, dass wir in Deutschland in der Politik den Nachwuchs nicht rechtzeitig auf die Bühne holen. Wenn wir sehen, wie in anderen Ländern junge Politiker höhere Positionen übernehmen, dann denke ich, muss sich auch in Deutschland etwas tun. Die jüngere Generation hält nicht an bestimmten Stellen fest. Karriere macht dynamisch – diese Flexibilität bezieht sich auch auf die eigene Einstellung und Ansichten.
Haben Sie als Mediatorin einen Tipp, der uns bei Konfliktsituationen im Alltag helfen kann?
Ein ganz einfacher, menschlicher Tipp: Egal in welcher Rolle Sie sind – ob sie ein Freund sind, eine Partnerin, ein Kollege oder eine Vorgesetzte – versuchen Sie, wenn Sie selbst an einem Konflikt beteiligt sind, noch zwei Minuten zuzuhören, nachdem Sie gesagt haben, was Sie stört. Und dann stellen Sie beide Meinungen nebeneinander und sagen: Okay, keine von den beiden Meinungen muss jetzt richtig sein, lass uns etwas Neues machen. Dafür braucht es die Kunst des Zuhörens. Konfliktfähigkeit bedeutet auch, die Haltung zu haben, die Meinung des anderen könnte für uns beide ein Gewinn sein. Wenn man diese Großzügigkeit beherrscht, dann entsteht automatisch ein Dialog. So kann aus vielen Meinungen eine kreative Lösung entstehen – und nicht wieder eine große Koalition.
Am 18. April 2018 wird Sosan Azad Gast beim 12. Nemetschek Forum in der Black Box im Gasteig sein. Dann wird die Mediatorin gemeinsam mit dem stellvertretenden Chefredakteur der ZEIT, Bernd Ulrich, und dem Politikwissenschaftler und Wahlforscher Prof. Dr. Thorsten Faas diskutieren, wie es um die politische Diskussionskultur in Deutschland steht und ob wir den Wert von fairem Streit eigentlich noch erkennen.