Die Europäische Union als Wertegemeinschaft ist derzeit von vielen Kräften bedroht – von innen wie von außen. Populisten sind weltweit auf dem Vormarsch und locken mit einfachen Konzepten, schüren Ressentiments und spalten bürgerliche Gemeinschaften wie auch ganze Staaten. Dabei kann die Lösung der großen Zukunftsfragen nur durch Verständigung, Kooperation und Zusammenhalt gelingen – in einem geeinten und starken Europa.
von Manfred Weber
Wenn Sie diese Ausgabe der Mediation lesen, wird die Europawahl am 26. Mai 2019 bereits erfolgt sein. Heute, da ich diese Zeilen schreibe, ist das Ergebnis dieser Wahl noch vollkommen offen. Doch schon jetzt kann ich sagen: Die Europawahl wird eine Schicksalswahl für unseren Kontinent.
Unsere Zeit ist geprägt von Unsicherheit und Instabilität. Europa ist gefordert wie schon lange nicht mehr. Der politische Diskurs der vergangenen Jahre war bestimmt von verschiedenen Krisen: Finanz-, Euro- und Migrationskrise haben die Politik herausgefordert. Und Kräfte der Extreme wollen die Situation nutzen, um Europa zu spalten – die Mitgliedstaaten untereinander, aber auch ihre Bürger. Vereinfachungen und Fake News sind dabei ihre Kommunikationsmittel.
Europa ist die Lösung
Linke und rechte Populisten sowie Nationalisten fordern Europa und seine Prinzipien fundamental heraus. Zu diesen Prinzipien gehören Wege zur Verständigung und der Wille, Lösungen gemeinsam zu erarbeiten. Wir setzen auf Zuhören, den Willen zum Kompromiss und auf multilaterale Lösungen. Denn nur geschlossen und entschlossen können wir die Herausforderungen unserer Zeit anpacken. Wer, wenn nicht Europa, kann der Globalisierung Regeln geben und ökologische wie soziale Standards für den weltweiten Handel etablieren? Wer, wenn nicht Europa, kann Innovationen im Sinne der Menschen gestalten? Wer, wenn nicht Europa, kann zeigen, dass die Soziale Marktwirtschaft auch im 21. Jahrhundert wirtschaftliche Prosperität und Solidarität zusammenbringen kann? Wer, wenn nicht Europa, setzt auf das Mittel der Diplomatie statt auf Eskalation? Wer, wenn nicht Europa, bietet Lösungen zur Bewältigung des Klimawandels an? Wer, wenn nicht Europa, kann und sollte versuchen, die Welt immer ein kleines Stück besser zu machen?
Für ein starkes Europa, auch international
Europa wird auch von außen gefordert: Die internationale Sicherheitslage ist angespannt wie lange nicht. Das Iran-Abkommen, die Verhandlungen um den INF-Vertrag, die Situation in der Ostukraine, die Verhältnisse in Syrien – all das und mehr spielt vor den Toren Europas oder betrifft Europa mittel- wie unmittelbar.
Wir erleben auch einen Wandel in den internationalen Beziehungen, der fundamentaler Natur ist – die Abkehr vom Prinzip des Multilateralismus. Der Wille zum Dialog und zur Verständigung auf einen gemeinsamen Weg geht verloren. Die Dynamik der Kooperation und die Wirkmächtigkeit von internationalen Institutionen werden schwächer. Doch Unilateralismus und die Hinwendung zum Nationalismus können nicht das Zukunftsmodell des 21. Jahrhunderts sein. Stattdessen brauchen wir einen neuen Willen zur Gemeinsamkeit.
Es ist deutlicher denn je: Europa wird gebraucht. Um sich auf dem internationalen Parkett zu behaupten, muss Europa stark und einig sein. Wir müssen den Willen haben, mitzugestalten – auf zentralen Feldern der internationalen Politik, wie etwa bei Innovationen, bei der Bearbeitung und Prävention von Krisen, in der Zusammenarbeit zur wirtschaftlichen Entwicklung oder in Fragen der Verteidigung.
Für gemeinsame Innovationen
Europa muss eine Innovationsunion werden: mit gezielten Investitionen in Digitalisierung, etwa zur Nutzung von Big Data oder beim Aufbau einer europäischen Digitalplattform für Künstliche Intelligenz. Wir müssen uns zusammen stark machen – für einen Kampf, der mir persönlich am Herzen liegt: Ich möchte die Kräfte bündeln, um die Volkskrankheiten Krebs und Alzheimer zu stoppen. Ich schlage einen Masterplan vor, den ich gemeinsam mit führenden Krebsforschern erarbeitet habe, um Europas Ressourcen und Ziele beim Kampf gegen diese Krankheit besser abzustimmen, zu bündeln und zu intensivieren. [[oben rechts auf der Seite schön groß bitte Abb. 94576008 | stock.adobe.com/Grecaud Paul]]
Für einen neuen Zusammenhalt
Mein Europa hält zusammen: Wir müssen Spaltung und Polarisierung überwinden. Europa hat über Jahrzehnte hinweg Mechanismen des Ausgleichs und der Kompromissfindung entwickelt – orientiert am besseren Argument und im Willen, gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten. Das müssen wir uns als Europäische Union bewahren. Erstarkte Populisten von links wie von rechts könnten das Europäische Parlament nachhaltig lähmen. Ein stark polarisiertes Parlament wäre fatal für die Handlungsfähigkeit eines starken Europas, das nötig ist, um die Herausforderungen zu meistern wie auch die Zukunftschancen zu ergreifen.
Wir müssen für unser Europa kämpfen. Wir müssen die Spannungen der letzten Jahre hinter uns lassen – ob Nord, Süd, Ost oder West – nur gemeinsam sind wir stark. Europa braucht neuen Zusammenhalt: Wir müssen Gräben überwinden, die die Parteien der Extreme ausgehoben haben. Wir müssen Gesellschaften und Staaten zusammenhalten, statt zu spalten. Dazu braucht es ein Angebot für bürgerliche Politik.
Für unsere Zukunft
Europa liegt nun in den Händen der Menschen, und sie müssen entscheiden, ob wir den Gedanken der europäischen Gemeinschaft in die Zukunft tragen wollen, oder ob Populismus und zerstörerischer Nationalismus gewinnen. Wir stehen für ein Europa ein, das nah bei den Bürgern ist. Für ein Europa, das seine Werte und seine Identität bewahrt. Für ein Europa, das starke Regionen hat. Für ein Europa, das Innovationen und Forschung fördert. Für ein Europa, das seine Außengrenzen schützt und in der inneren Sicherheit kooperiert. Für ein Europa, das sich um die großen Fragen unserer Zeit kümmert.
europaweiter Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt des Kommissionspräsidenten und Spitzenkandidat von CDU und CSU zur Europawahl. Seit 2014 ist der 46-Jährige Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.
Artikel aus aktuellen Ausgabe “Zwischen Lüge und Wahrheit” (III/2019)